Sterben ist nicht binär

Corona ist eine reale und schwerwiegende gesundheitliche Bedrohung. Dies anzuzweifeln würde bedeuten, sich in unwissenschaftliche Gefilde oder gar verschwörungstheoretisches Sumpfwasser zu begeben. Daher war das Ergreifen von drastischen Maßnahmen zur Eindämmung des neuartigen Virus mit dem Ziel, Leben zu schützen, notwendig und richtig. Angesichts dieses Ziels gilt es jedoch, die gesundheitlichen Konsequenzen des neuen „Corona-Alltags“ gesamtheitlich zu berücksichtigen, was auch eine langfristige Betrachtung von teilweise komplexen und indirekten Wirkungskanälen erfordert.

Der Kern meines Arguments besteht darin, Sterben nicht als „binär“ anzusehen. Es geht nicht darum, ob wir sterben, sondern wann wir sterben. Wenn ein Herzinfarkt einen Menschen aus dem Leben reißt, ist der Infarkt nicht der Grund dafür, dass der Betroffene verstirbt, sondern determiniert viel mehr den Todeszeitpunkt. Dies wird in besonderem Maße bei einem plötzlichen Todesfall eines jungen Menschen offenbar, wenn die Betroffenheit der Trauernden in dem Satz Ausdruck findet: „Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich.“

Aufgrund der Eindämmungsbemühungen erhöht sich die Einsamkeit vieler unserer geschätzten Senioren, da sie oft allein wohnen, Veranstaltungen abgesagt werden und Kinder sowie Enkel zum Schutz der Großeltern von Besuchen absehen. Doch als Resultat bauen viele dieser Menschen körperlich und geistig erheblich ab – eine häufig unumkehrbare Entwicklung. Letztendlich wird wohl eine große Zahl Betroffener zukünftig nicht nur Lebensqualität einbüßen, sondern auch früher aus dieser Welt scheiden. Auch sie sind Opfer des Virus – nicht aufgrund einer Infektion, sondern aufgrund von Isolation.

Die gut dokumentierten lebensverkürzenden Effekte von Einsamkeit betreffen wohl in besonderem Maße, jedoch nicht ausschließlich, die betagteren Gesellschaftsmitglieder. Daneben gibt es weitere Kanäle, durch die Lebenszeit verloren geht, etwa wenn Menschen mit anderen Erkrankungen aus Angst vor einer Infektion Arztpraxen meiden und medizinische Behandlungen aufschieben oder wenn Kinder und Jugendliche in problematischen Familienverhältnissen psychische Folgen davontragen, die lange Zeit unbemerkt bleiben, weil weder Lehrer noch Sporttrainer oder Chorleiter diese Kinder zu Gesicht bekommen. So könnte auf vielen verschiedenen und verzweigten Wegen eine erhebliche Menge an Leben, also Lebenszeit, verloren gehen – allerdings ohne eine einzige Schlagzeile.

Gerade der letzte Punkt kann erklären, weshalb dieses Argument in der politischen Debatte wenig Gehör findet. Da die Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit auf die RKI-Zahlen gerichtet ist, wird den indirekten Konsequenzen der neuen Verhaltensnormen für die Lebenserwartung der Bürger kaum Beachtung geschenkt. Ich plädiere dafür, dass sich politische und persönliche Entscheidungen über verantwortliches Verhalten nicht ausschließlich am Infektionsgeschehen orientieren.

Autor: Tobias Hillenbrand

22. 06. 2020


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